ASEAS 1-2 final (außerGottowik).indd Armut im Wohlstand Zunehmende soziale Disparitäten in Singapur Poverty in a State of Wealth Social Disparities in the City-State of Singapore Rolf Jordan1 Universität Kassel, Deutschland & Universität Wien, Österreich / University of Kassel, Germany & University of Vienna, Austria ASEAS - Österreichische Zeitschrift für Südostasienwissenschaften / Austrian Journal of South-East Asian Studies, 1 (2), 2008 SEAS - Gesellschaft für Südostasienwissenschaften - www.SEAS.at Der folgende Beitrag zeigt, ausgehend von der aktuellen sozialen und wirtschaftlichen Situa- tion, wichtige Aspekte sozialer Ungleichheit in Singapur auf und diskutiert die seit Jahren sich verschärfenden Einkommensdisparitäten vor dem Hintergrund der nur unzureichend entwickelten sozialstaatlichen Strukturen. Die Argumentation wird dabei von der These geleitet, dass die fehlende oder nur mangelhafte soziale Unterstützung wesentlich zu den sozialen Problemen eines wachsenden Teils der Bevölkerung in dem von großem Wohlstand geprägten Stadtstaat beitragen und ein Ausbau sozialstaatlicher Strukturen eine Voraussetzung darstellen sowohl für die Lösung der aktuellen sozialen Probleme als auch für eine längst überfällige Demokratisierung Singapurs. Schlagworte: Singapur, Armut, Ungleichheit, soziale Sicherheit Singapore is the wealthiest nation in South-East Asia today. But behind its high-rise buildings and modern shopping malls rising social disparities and a growing number of poor households cast a shadow on an otherwise successful economic development. Shrinking incomes and rising prices for housing and energy have increased the number of those who are struggling life in one of the most expensive cities in Pacifi c Asia. The situation is further complicated by a just rudimentary social security system that is not adequately designed for the needs of poor households. The following paper gives a brief insight into the current state of economic and social development in Singapore and its impact on the social fabric of the Singapore society. The lack of an adequately structured social security system for those households and the lower end of the income strata in general contribute most to the rising social disparities is what characterises Singapore’s social development today. Keywords: Singapore, Poverty, Disparities, Social Security 1 Rolf Jordan ist promovierter Politikwissenschaftler und arbeitet seit Jahren zu sozialen und politischen Entwicklungen in Singapur, Malaysia und anderen Staaten Südostasiens. Forschungsschwerpunkte: politischer Wandel und Demokratisierung, zivilgesellschaftliche Entwicklung, Migration, Stadtentwicklung. Lehrtätigkeiten an der Universität Kassel sowie an der Universität Wien. Außerdem im Vorstand der Südostasien Informationsstelle und des Asienhaus Fördervereins. Kontakt: rojordan@uni-kassel.de. 82 Rolf Jordan - Armut im Wohlstand Armut im Wohlstan Zunehmende soziale Poverty in a State of W ASEAS 1 (2) Einleitung Mit seinen modernen Einkaufszentren und weithin sichtbaren Wolkenkratzern markiert Singapur das reiche, wohlhabende Extrem in einer Region, die von scharfen (Entwicklungs-) Disparitäten gekennzeichnet ist. In kaum einem Land der Region wird der eigene Reichtum so sehr zur Schau gestellt wie hier, und nirgends hat der wirtschaftliche Erfolg der letzten Jahrzehnte zugleich so sehr die Selbst- und Fremdwahrnehmung geprägt wie im Stadtstaat Singapur. Doch hinter den glitzernden Fassaden der Tropical City of Excellence2 bleiben die auch hier bestehenden sozialen Ungleichheiten und die Armut einer nicht geringen Zahl von Menschen zumeist verborgen – auch weil dies eben nicht ins (Selbst-)Bild einer prosperieren- den Metropole passt. Erst auf den zweiten Blick lässt sich erkennen, was sich an sozialer Differenzierung und Disparität hinter der Erfolgsgeschichte des Stadtstaats verbirgt: eine große Zahl von Haushalten mit niedrigem Einkommen, eine wachsende Zahl von Menschen ohne dauerhafte und sichere Beschäftigung und ein sich nicht zuletzt in Folge demographischer Veränderungen verschärfendes Problem der Altersarmut. Waren es vor wenigen Jahren noch – als verspätete Folge der Asienkrise – sinkende Einkommen und zunehmender Arbeitsplatzabbau, die zu einer Verschärfung sozialer Ungleichheit und einer Zunahme von Armut geführt hatten (Jordan 2007), so sind es aktuell vor allem rapide steigende Lebenshaltungskosten und eine anhaltend hohe Inflation, die besonders einkommensschwachen Haushalten das Leben und Überleben in Singapur erschweren. Auch für den flüchtigen Beobachter sichtbare Hinweise auf das Problem wachsender Armut im reichen Singapur finden sich auf den Märkten der vor allem älteren Housing Estates, wo seit Jahren einzelne Garküchen und Marktstände vergünstigtes Essen für sozial Schwache anbieten. In solchen Angeboten für einkommensschwache Bevölkerungsgruppen werden jene sozialen Probleme sichtbar, die den Stadtstaat besonders seit Ende der 1990er Jahre kennzeichnen, als in Folge der Asienkrise auch hier immer mehr Arbeitsplätze nicht nur im Industriebereich, sondern auch in den Dienstleistungssektoren verloren gingen. Mehr und mehr Menschen sind seither von Arbeitslosigkeit, von Unterbeschäftigung und von niedrigen Löhnen betroffen (Jordan 2007). Der folgende Beitrag zeigt, ausgehend von der aktuellen sozialen und wirtschaftlichen Situation, wichtige Aspekte sozialer Ungleichheit in Singapur auf und diskutiert die seit Jahren 2 Die Tropical City of Excellence gehört seit Anfang der 1990er Jahre zu den zentralen Begriffen der staatlichen Entwicklungsplanung, wie sie etwa von der Urban Redevelopment Authority in einer ihrer Planungsentwürfe 1991 entworfen wurde (URA 1991). 83 sich verschärfenden Einkommensdisparitäten vor dem Hintergrund der nur unzureichend entwickelten sozialstaatlichen Strukturen. Die Argumentation wird dabei von der These geleitet, dass die fehlende oder nur mangelhafte soziale Unterstützung wesentlich zu den sozialen Problemen eines wachsenden Teils der Bevölkerung in dem von großem Wohlstand geprägten Stadtstaat beitragen und ein Ausbau sozialstaatlicher Strukturen eine Voraussetzung darstellen sowohl für die Lösung der aktuellen sozialen Probleme als auch für eine längst überfällige Demokratisierung Singapurs. Steigende Lebenshaltungskosten verschärfen die Armut Nachdem in den letzten Monaten die Zahl jener Menschen gestiegen ist, die karitative Angebote in Anspruch nehmen müssen, erfährt das Thema „Armut“ nun auch eine verstärkte Aufmerksamkeit in den lokalen Medien des Stadtstaats. Dazu beigetragen hat der Umstand, dass seit einigen Wochen immer mehr Menschen täglich zur Singapore Buddhist Lodge kommen, um die kostenlosen Mahlzeiten der Einrichtung, die sich im Zentrum Singapurs befindet, zu nutzen. Waren es nach Angaben des Tempels Ende letzten Jahres noch etwa 3.000 Menschen täglich, die dieses Angebot in Anspruch nahmen, ist ihre Zahl mittlerweile auf mehr als 5.000 angestiegen (AFP 2008a). Und auch andere Tempel und kirchliche Einrichtungen verzeichnen mittlerweile einen deutlichen Anstieg der Zahl deren, die ihre Angebote einer günstigen Versorgung mit Lebensmitteln nutzen. Solche Initiativen sind ein deutlicher Hinweis auf die zunehmend prekäre Situation, in der sich viele Haushalte in Singapur befinden. Eine wesentliche Ursache für die für viele Haushalte derzeit sehr angespannte finanzielle Lage ist in dem seit Beginn des Jahres auch in Singapur zu beobachtenden drastischen Anstieg der Lebenshaltungskosten zu sehen. Im ersten Quartal des Jahres verzeichnete der Stadtstaat nach Angaben der Statistikbehörde des Landes eine Inflationsrate von mehr als sieben Prozent und damit den höchsten Preisanstieg seit mehr als 25 Jahren (Reuters 2008). Besonders der enorme Anstieg der Energiekosten und die Preissteigerungen bei Lebensmitteln tragen zu dieser Entwicklung maßgeblich bei (Associated Press 2008). Schon zuvor waren auch die Preise auf dem Wohnungsmarkt angestiegen, so dass die anhaltend hohen Kosten längst die finanziellen Möglichkeiten einer großen Zahl von Haushalten übersteigen. Bereits in den letzten Jahren hatte die Zahl der überschuldeten Haushalte deutlich zugenommen und die jüngste Teuerungswelle verschärft die Situation weiter.3 Während anhaltend hohe Energiepreise weltweit zu einem Anstieg der Lebenshaltungskosten 3 Entsprechende Hinweise auf einen Anstieg bei Privatinsolvenzen fanden sich unter anderem Ende 2002; so in Meldungen von AFP (vom 3. Oktober 2002) und Associated Press (vom 2. Dezember 2002). 84 Rolf Jordan - Armut im Wohlstand ASEAS 1 (2) führen, wird die Lage in Singapur zusätzlich verschärft, da der Stadtstaat in vielen Bereichen von Lieferungen aus den Nachbarländern abhängig ist. Vor allem aus dem benachbarten Malaysia bezieht Singapur einen Großteil seiner Lebensmittel, aber auch Teile seiner Wasser- und Energieversorgung. Während es in den letzten Jahren gelungen ist, die Abhängigkeit von Wasserlieferungen aus dem Nachbarstaat zu verringern, bleiben Lebensmittellieferungen aus Malaysia für die Märkte in Singapur weiterhin von elementarer Bedeutung. Doch in Malaysia ist es zuletzt zu einem rapiden Anstieg der Treibstoffpreise gekommen, nachdem die Regierung in Kuala Lumpur angesichts der hohen Rohölnotierungen einen Stopp der staatlichen Treibstoffsubventionen verkündete.4 Seither steigen in Singapur die Preise für importierte Lebensmittel und Baumaterialien aus dem Nachbarland noch weiter an. Nicht viel besser ist die Situation im südlichen Nachbarland Indonesien, wo die Einstellung staatlicher Subventionen für Treibstoff mittlerweile zu gewaltsamen Protesten führte. Auch hier schlagen sich steigende Energie- und Lebensmittelpreise direkt in steigenden Lebenshaltungskosten in Singapur nieder, die – wie in den Nachbarländern auch – vor allem die Haushalte mit niedrigem Einkommen treffen. Marktexperten vermuten, dass die hohen Preise etwa für Lebensmittel – allein beim Reis verzeichnete der Stadtstaat zuletzt einen Preisanstieg von mehr als 50 Prozent – auch in den nächsten zwei bis drei Jahren Bestand haben werden. 4 Der Stopp staatlicher Subventionen durch die Regierung führte in Malaysia Anfang Juni zu einem sprunghaften Anstieg der Treibstoffpreise um mehr als 40 Prozent. Durch den Stopp erhofft sich die Regierung Einsparungen in Höhe von umgerechnet 4,3 Milliarden Dollar (Reuters 2008). 85 Armut im Wohlstand und die Zunahme von Ungleichheiten Offizielle Statistiken weisen seit Beginn der Asienkrise 1997 ein Absinken der Durchschnittseinkommen um nahezu drei Prozent aus, und besonders bei den unteren Beschäftigungsgruppen ist nach Informationen der oppositionellen Singapore Demoratic Party (SDP) ein Rückgang auf nahezu die Hälfte des vormaligen Verdienstes festzustellen.5 Seither sind immer mehr Bevölkerungsschichten von stagnierenden oder auch sinkenden Einkommen betroffen. Diese Entwicklung ist selber Folge veränderter ökonomischer Rahmenbedingungen, die sowohl zu einer Verlagerung vor allem arbeitsintensiver Produktionsbereiche in andere Länder der Region, als auch zu einem erhöhten Druck auf die Löhne in den unteren Beschäf- tigungsbereichen geführt haben, die durch ein niedriges Qualifikations- und Produktivitätsniveau gekennzeichnet sind. Vor allem zwischen 2000 und 2004 wurden im Industriesektor mehrere 10.000 Stellen abgebaut und ganze Produktionsbereiche der Computerindustrie ausgelagert. Am stärksten betroffen waren vor allem niedrig qualifizierte Beschäftigte, die auch von der angestrebten Restrukturierung der Wirtschaft, etwa durch den seither staatlich geförderten Ausbau im Biotechnologiebereich, kaum profitieren konnten. Niedrige Lohnkosten zeichnen den Industriestandort zwar schon seit den späten 1960er Jahren aus, doch seit der Asienkrise ist es besonders für Menschen mit nur geringer Bildung immer schwieriger geworden, noch ein adäquates Einkommen zu erzielen – wenn sie überhaupt noch eine Beschäftigung finden. Trotz dieser Entwicklung werden Forderungen nach einer Mindestlohnregelung aber seit Jahren von der Regierung immer wieder abgelehnt (Asher & Rajan 2000). Zwar beträgt die Arbeitslosenrate nach Angaben der Regierung derzeit lediglich zwei Prozent, nachdem sie zwischenzeitlich Höchstwerte von nahezu sieben Prozent erreicht hatte, doch hinter den Statistiken verbergen sich vielfältige Formen der Unterbeschäftigung, unsichere Beschäftigungsverhältnisse und sinkender Einkommensmöglichkeiten für einen wachsenden Teil der Bevölkerung. Nach Ansicht des regierungsunabhängigen Think Centre lag gerade in manchen älteren Anlagen des öffentlichen Wohnungsbaus (HDB) die Arbeitslo- senrate zeitweise bei fast acht Prozent.6 Arbeitslosigkeit und der Rückgang der Realeinkommen gerade in den unteren Beschäftigungsbereichen haben nach Ansicht vieler BeobachterInnen zu einer weiteren Spreizung der Einkommensschere in Singapur geführt. Die Verteilung des Wohlstands, den ein über Jahrzehnte hinweg hohes Wirtschaftswachstum möglich gemacht hat, erfolgte dabei auch schon vor der Asienkrise sehr ungleich und hatte bereits in den 1990er Jahren zu einer 5 Vgl. hierzu die unter www.singaporedemocrat.org von der SDP zusammengestellten Informationen. 6 Vgl. hierzu die vielfältigen Diskussionsbeiträge unter www.thinkcentre.org. 86 Rolf Jordan - Armut im Wohlstand ASEAS 1 (2) Zunahme sozioökonomischer Disparitäten geführt (Davidson, Drakakis-Smith 1997; Rodan 1997). In den letzten Jahren ist der Gini-Index7 für Singapur jedoch immer weiter angestiegen und verweist mit einem Wert von derzeit 48,5 (AFP 2008b) auf eine weiterhin zunehmende Ungleichverteilung des gesellschaftlichen Wohlstandes.8 Nach Ansicht vieler KritikerInnen der sozialen Situation in Singapur ermöglichen die Einkommen von nahezu einem Drittel aller Haushalte keinen angemessenen Lebensstandard, und bereits die Volkszählungsdaten des Jahres 2000 zeigten, dass etwa jedem achten Haushalt weniger als S$1.000, umgerechnet etwa 472 Euro, im Monat zur Verfügung stehen (Jordan 2007). Zugleich lagen in weiten Bereichen der Wirtschaft die Durchschnittseinkommen so niedrig, dass lediglich ein Drittel aller Beschäftigten Lohn- und Einkommenssteuer zahlte (Asher & Rajan 2000). An dieser Situation hat sich seither nur wenig geändert und aktuelle Statistiken zeigen, dass Haushaltseinkommen von S$700 im Monat zur sozialen Realität in einem Stadtstaat gehören, dessen durchschnittliches Pro-Kopf-Einkommen mit knapp S$53.000 im Jahr angegeben wird.9 7 Statistische Kennzahl zur Messung von wirtschaftlicher Konzentration, besonders in den Bereichen der Einkommens- und Landverteilung. Der in der Regel zwischen 0 und 100 – in einigen Publikationen auch zwischen 0 und 1 – liegende Wert zeigt den Grad der Abweichung der Einkommens- oder Landverteilung von der völligen Gleichverteilung an, wobei der Wert (bzw. 1) dessen vollständige Ungleichverteilung signalisiert. 8 Während der Anteil der reichsten 20 Prozent am Gesamteinkommen der Gesellschaft nahezu 50 Prozent beträgt, entfallen auf die ärmsten 20 Prozent der Gesellschaft weniger als drei Prozent des Gesamteinkommens (Chan 2002). 9 Zur Situation der Bezieher niedriger Einkommen siehe u.a. den AFP-Artikel vom 4. Mai 2006; Angaben zum Pro-Kopf-Einkommen: Statistics Singapore (www.singstat.gov.sg). 87 Von einiger Bedeutung sind in diesem Zusammenhang seit jeher Fragen der unterschiedlichen Entwicklung der Einkommen zwischen den ethnischen Gruppen, die immer wieder zu öffentlichen Diskussionen über die ungleiche Verteilung des Wohlstands und der sozialen Kosten der wirtschaftlichen Entwicklung Singapurs geführt haben und auch weiterhin führen. Vor allem in den 1970er Jahren, einer Phase rapiden Wirtschaftswachstums, kam es zu einer deutlichen Ungleichverteilung der Durchschnittseinkommen zwischen der chinesischen und der malaiischen Bevölkerungsgruppe. In diesem Zeitraum stieg der Anteil der Bezieher von niedrigen Einkommen bei den malaiischen Haushalten auf zwei Drittel an, während er bei den chinesischen Haushalten auf weniger als die Hälfte zurückging. Aufgrund ihres insgesamt schlechteren Bildungsniveaus fanden sich Malaien wesentlich häufiger in den schlechter bezahlten Beschäftigungsbereichen der Industrie und des Dienstleistungssektors, als dies bei Chinesen der Fall war (Davidson, Drakakis-Smith 1997). An dieser Situation hat sich bis heute nur wenig geändert, und so zeigen auch neuere Daten, dass Malaien noch immer überdurchschnittlich häufig in den unteren Einkommensgruppen anzutreffen sind. Lag das durchschnittliche monatliche Haushaltseinkommen malaiischer Familien Anfang der 1990er Jahre noch bei ca. 73 Prozent des durchschnittlichen Einkommens aller Haushalte in Singapur, so ist dieser Wert seither weiter zurückgegangen und beträgt mittlerweile nur noch etwa 64 Prozent, wie die letzten Volkszählungsdaten zeigen.10 Öffentliche Auseinandersetzungen über soziale Disparitäten zwischen den unterschiedlichen ethnischen Gruppen, wie sie zuletzt etwa in Malaysia zu gewaltsamen Zusammenstößen zwischen Demonstranten und Polizei geführt haben, bleiben in Singapur aber weiterhin tabu.11 Staatliche Unterstützung bleibt die Ausnahme Die jüngste Entwicklung verdeutlicht einmal mehr, dass die Kluft zwischen sinkenden Einkommen und steigenden Lebenshaltungskosten zunimmt und dass sich die Lebensbedingungen für immer mehr Menschen in Singapur zunehmend verschlechtern. Trotz der sich seit Jahren verschärfenden sozialen Probleme, von denen ein wachsender Teil der Bevölkerung betroffen ist, versteht sich Singapur nicht als Wohlfahrtsstaat, der seinen Bürgern staatliche Unterstützung in sozialen Notlagen garantiert. Weder weisen die wenigen bestehenden Sicherungssysteme Mechanismen der Umverteilung des gesellschaftlichen Wohlstands zwi- 10 Angaben nach: Census of Population 2000. Statistical Release 3: Economic Characteristics; publiziert vom Singapore Department of Statistics, 2001. 11 Im November 2007 organisierte die Nichtregierungsorganisation HINDRAF in Kuala Lumpur eine Demonstration, um auf die sich seit Jahren verschlechternde sozioökonomische Situation der indisch-stämmigen Bevölkerung Malaysias und ihre nur schwache Repräsentation in den politischen Institutionen des Landes aufmerksam zu machen. Die Protestveranstaltung wurde von der Polizei mit Gewalt aufgelöst und fünf führende Mitglieder der Organisation wurden verhaftet. 88 Rolf Jordan - Armut im Wohlstand ASEAS 1 (2) schen den verschiedenen Einkommensgruppen im Staat auf, noch existieren Rechtsansprüche auf Angebote sozialer Grundsicherung (Williams 1996). Angesichts fehlender oder nur geringer staatlicher Unterstützung sind viele Menschen vor allem auf die Hilfe ihrer Familie angewiesen, die noch immer die wesentliche Instanz sozialer Absicherung in Singapur darstellt. Offizielle Statistiken weisen einen konstant niedrigen Anteil der staatlichen Sozialausgaben am Bruttoinlandsprodukt aus, und ein Großteil der Ausgaben für soziale Sicherheit wird weiterhin direkt von den Beschäftigten selber getragen (Asher & Rajan 2000; Kwon 1998).12 Gleichzeitig steigt im Gesundheitssystem die Zahl jener, die im Krankheitsfall nur noch unzureichend abgesichert sind. Steigende Kosten im Gesundheitswesen auf der einen und eine in Teilen unzureichende finanzielle Absicherung auf der anderen Seite haben dazu beigetragen, dass eine nicht unerhebliche Zahl von Menschen nur noch eingeschränkten Zugang zu den vielfältigen Angeboten der Gesundheitsversorgung hat oder im Krankheits- und Behandlungsfall mit ernsten finanziellen Problemen konfrontiert wird. Auch bei der Altersversorgung, dem Herzstück der sozialen Sicherung in Singapur, führen sinkende Einkommen und steigende Ansprüche einer auch hier von Alterungsprozessen gekennzeichneten Gesellschaft zu einer unzulänglichen Absicherung immer größerer Teile der Bevölkerung. Vor allem jene niedrig qualifizierten Arbeitnehmer, die in den wirtschaftlichen Boomzeiten Singapurs in nur schlecht entlohnten Bereichen der Fertigungsindustrie und den unteren Segmenten des Dienstleistungssektors beschäftigt waren, liegen heute mit ihren Rentenbezüge oftmals kaum über den Existenzminimum, und viele von ihnen sind auch noch im hohen Alter gezwungen, einer kleinen Beschäftigung nachzugehen, um überleben zu können. Deutlich wird der niedrige Grad sozialstaatlicher Absicherung der Bevölkerung auch daran, dass trotz einer sich seit einigen Jahren abzeichnenden strukturellen Arbeitslosigkeit bei jenen Bevölkerungsgruppen, die nicht über ausreichende Qualifikationen verfügen, die Einführung einer Arbeitslosenversicherung von der Regierung weiterhin strikt abgelehnt wird. Dies drängt nach Ansicht von Kritikern vor allem niedrig Qualifizierte in Beschäftigungsverhältnisse mit schlechten Arbeitsbedingungen und niedriger Entlohnung. In diesem Beschäftigungssegment ist daher seit Jahren, zusätzlich verschärft durch eine hohe Zahl niedrig qualifizierter ArbeitsmigrantInnen, die Arbeitsplatzkonkurrenz besonders hoch.13 Es ist jedoch zugleich festzuhalten, dass auch in Singapur der Staat – trotz aller gegenteiligen Rhetorik – seinen Bürgern in sozialen Notlagen eine, wenn auch minimale, Unterstützung 12 1997/98 betrug der Anteil der Sozialausgaben am Bruttoinlandsprodukt 6,3 Prozent und stieg bis 2000/01 auf 6,9 Prozent an. Drei Viertel der Ausgaben entfallen dabei auf Arbeitnehmer- und Arbeitgeberbeiträge zu gesetzlichen und privaten Sozialversicherungen, und lediglich ein Viertel der Ausgaben entfällt auf Haushaltsmittel der Regierung (Asher & Rajan 2000: 235). 13 Bereits im letzten Herbst vermeldeten die Behörden, dass mittlerweile mehr als eine Million ausländische Arbeitskräfte in Singapur beschäftigt sind – und damit mehr als ein Drittel aller Beschäftigten stellen. Bei einem Großteil der MigrantInnen handelt es sich um niedrig qualifizierte Arbeitskräfte aus süd- und südostasiatischen Staaten, die in den unteren Beschäftigungssegmenten der Industrie und des Dienstleistungssektors Arbeit finden (Jordan 2007). 89 gewährt. Entsprechende Leistungen auf der Grundlage des Public Assistance Scheme zielen jedoch auf eine sehr begrenzte Zahl von Bedürftigen und beinhalten in der Regel nur Maßnahmen zur Linderung unmittelbarer Not (Ramesh 2000). Hierzu gehören vor allem von Armut betroffene Ältere, Behinderte und chronisch Kranke, für die nicht mehr durch die Familie gesorgt werden kann, aber auch jene Familien, die nach offiziellen Kriterien unterhalb der Armutsgrenze leben (Williams 1996). Dagegen bleiben andere Bevölkerungsgruppen von staatlichen Unterstützungsleistungen zumeist ausgeschlossen oder finden nur sehr bedingt staatliche Hilfen. Das Public Assistance Scheme sieht dabei nicht nur eine sehr strenge Prüfung der Bedürftigkeit der Empfänger staatlicher Unterstützung vor, sondern gewährt im jeweiligen Fall auch nur sehr geringe Leistungen. Für Alleinstehende betragen sie nur etwa S$200, und auch für eine vierköpfige Familie reichen sie kaum über S$500 hinaus. Diese von Ramesh (2000) in seiner Studie zur sozialpolitischen Situation in Singapur angeführten Unterstützungssätze liegen dabei deutlich unter jenen S$950, die von der Regierung als Existenzminimum angesehen werden. Dabei bleiben auch diese geringen Unterstützungen eingebettet in ein enges Netz sozialer Kontrolle, mittels derer die regierende People’s Action Party (PAP) ihren Herrschaftsanspruch bis in den Alltag der Menschen hinein deutlich macht. Die Gewährung von Unterstüt- zungsleistungen an soziale Bedürftige erfolgt durch Einrichtungen und Institutionen, die aufs engste mit der Regierungspartei verbunden sind. Über die staatliche People’s Association (PA) werden die Anfragen nach sozialer Unterstützung an Constituency Secretariats im jeweiligen 90 Rolf Jordan - Armut im Wohlstand ASEAS 1 (2) Wohnumfeld weitergeben, wo Mitglieder der PAP-Wahlkreisbüros gemeinsam mit Vertretern anderer Basisorganisationen über die zu gewährende Unterstützung entscheiden. Eine endgültige Bewilligung von Leistungen erfolgt schließlich durch das jeweils zuständige Citizen’s Consultative Committee (CCC) und damit im direkten Wohnumfeld der Bedürftigen (Asher & Rajan 2000). Das Verfahren entbehrt nicht nur der Transparenz hinsichtlich der Bewilligungs- oder Ablehnungsgründe, sondern setzt die um Unterstützung bittenden Menschen auch der direkten Kontrolle ihrer sozialen Situation und der ihrer Familie durch ihre Nachbarn aus. Staatliche Unterstützung kann zugleich auch über eine Reihe freiwilliger Wohlfahrts- organisationen erfolgen. Neben Unterorganisationen des Gewerkschaftsdachverbandes NTUC zählen eine Reihe von Selbsthilfegruppen und kleinere, zumeist ethnisch oder religiös orientierte Wohlfahrtsorganisationen zu diesen so genannten Voluntary Welfare Organizations (VWO). Da die Zahl dieser Organisationen jedoch nur sehr gering ist, erreichen sie nur etwas mehr als ein Fünftel der bedürftigen Haushalte in Singapur. Während auch diese Unterstützungsleistungen oftmals vollständig auf staatliche Mittel zurückgreifen, erfolgt die ebenfalls strenge Prüfung der Bedürftigkeit und die mögliche Ablehnung der Hilfe durch die Wohlfahrtsorganisationen selbst, so dass staatliche Stellen hier nicht offen in Erscheinung treten (Ramesh 2000). Freiwillige Wohlfahrtsorganisationen spielen damit gleichzeitig eine wichtige Rolle in den Bemühungen der Regierung, soziale Unterstützungsleistungen von Rechtsansprüchen auf staatliche Leistungen zu entkoppeln. 91 Eine wesentliche Folge dieser seit Jahrzehnten nahezu unveränderten politischen Situation ist das Fehlen einer eigenständigen Verbändestruktur, wie sie etwa für europäische Wohlfahrtsstaaten in unterschiedlicher Form charakteristisch ist. Weder der Gewerkschaftsdachverband NTUC noch die durchaus existierenden Wohlfahrtsorganisationen verfügen als Institutionen über Mitsprachemöglichkeiten im (sozial-)politischen Raum. Die Menschen treten ihnen ähnlich wie den wohlfahrtsstaatlichen Einrichtungen des Staates im Bereich des Wohnens, der Bildung und der Gesundheitsversorgung einzig als KundInnen gegenüber, die spezifische Dienstleistungen in Anspruch nehmen, nicht aber als BürgerInnen, die über diese Institutionen zugleich Einfluss auf die Ausgestaltung sozialpolitischer Pro- gramme und damit auch auf grundsätzliche Fragen der (Um-)Verteilung gesellschaftlichen Wohlstands nehmen können (und dies auch tun). Die Organisation und Artikulation von Interessen in unterschiedlichen Sozialverbänden stellt ein wesentliches Element politischer Partizipation und damit demokratischer Entwicklung in den westlichen Industrienationen dar, das in Singapur nahezu gar nicht anzutreffen ist und dessen Herausbildung von den politischen Eliten auch weiterhin unterbunden wird. Fazit „You get what you pay for“ – das ist die unmissverständliche Botschaft, mit der die Regierung Singapurs ihre Ablehnung umfassender sozialstaatlicher Strukturen untermauert. Die ökonomische Absicherung der Beschäftigten und ihrer Familien – eine Folge der rapiden wirtschaftlichen Entwicklung der letzten vier Jahrzehnte – geht nicht einher mit einer für Wohlfahrtsstaaten westlicher Prägung noch immer charakteristischen „sozialen Solidarität“ (Kwon 1998). Für Ramesh (2000) begründet dies das zentrale Dilemma der allenfalls formal demokratischen Strukturen des politischen Systems Singapurs. Während die Regierung auf der einen Seite ein umfassendes und auf Rechtsansprüchen basierendes sozialstaatliches System ablehnt, greift die regierende People’s Action Party (PAP) immer wieder zu einzelnen staatlichen Sozialprogrammen für soziale Schwache, um sich eine breite Unterstützungsbasis in der Bevölkerung zu sichern. Dies wurde zuletzt bei den Parlamentswahlen 2006 deutlich, als die Regierung im Vorfeld der Wahlen neue Programme zur Aus- und Weiterbildung für niedrig qualifizierte und von Arbeitslosigkeit betroffene Arbeitskräfte mit einem Finanzvolumen von nahezu einer Milliarde Singapurdollar ankündigte (Associated Press 2006).14 Fehlende Absicherung der Beschäftigten im Fall von Arbeitslosigkeit, rudimentäre staatliche 14 Die Fördermittel von umgerechnet 473 Millionen Euro waren Teil einer Kampagne des seit Sommer 2004 amtierenden Premierministers Lee Hsien Loong, der sich 2006 zum ersten Mal zur Wahl stellte. 92 Rolf Jordan - Armut im Wohlstand ASEAS 1 (2) Unterstützungsleistungen in sozialen Notlagen und eine Alters- und Gesundheitsversorgung, die nahezu ausschließlich auf den individuellen Einkommensmöglichkeiten der Versicherten beruht, dies alles verweist auf einen deutlichen Widerspruch zwischen dem erreichten Entwicklungsstand und Wohlstand, der den Stadtstaat heute auszeichnet, und dem – auch im internationalen Vergleich – niedrigen Grad an sozialpolitischer Absicherung der Bevölkerung Singapurs. Selbst in den wenigen Fällen, in denen Menschen in sozialen Notlagen finanzielle Unterstützung gewährt wird, ist die Regierung darum bemüht, diese als einmalige Hilfe erscheinen zu lassen, aus denen keine Rechtsansprüche auf staatliche Unterstützung abzuleiten sind (Ramesh 2000). Noch ist offen, wie die Regierung auf die aktuelle Situation reagieren wird, und ob es angesichts der sich für eine wachsende Zahl von Menschen verschlechternden sozialen Bedingungen zu einer Ausweitung sozialstaatlicher Maßnahmen kommt. Wahrscheinlicher ist jedoch, dass sie auch im aktuellen Fall eher auf einmalige, die akute Problematik aufgreifende Hilfsangebote zurückgreifen wird, die jedoch weder zur dringend notwendigen Umverteilung gesellschaftlichen Vermögens zugunsten einkommensschwacher Haushalte, noch zur Herausbildung verbindlicher wohlfahrtsstaatlicher Ansprüche seitens sozial Schwacher führen werden. Es ist nicht zu erwarten, dass sich Singapur in naher Zukunft in einen Wohlfahrtsstaat verwandeln wird, der den bestehenden sozialen Disparitäten mit einer aktiven Sozialpolitik zu begegnen bereit ist. Bibliographie AFP (2008a). Longer queues for free food in wealthy S’pore: charities. Singapur, 14. April 2008. AFP (2008b). Free meals salvation for poor in wealthy Singapore. Singapur, 4. Mai 2008. Asher, Mukul; Rajan, Revathi (2000): Social Protection in Singapore. In Adam, Erfried; von Hauf, Michael; Marei, John (Hrsg.). Social Protection in Southeast & East Asia, (S. 231–268). Singapur: Friedrich-Ebert- Stiftung. Associated Press (2006). Singapore proposes S$1 billion package for low-wage workers. Singapur, 12. Jan. 2006. Associated Press (2008). S’pore inflation hits 26-year high in March on food, oil. Singapur, 23. April 2008. Chan, Raymond K. H. (2002). The Welfare System in Southeast Asia: Development and Challenges. In Chan, Raymond K. H.; Leung, Kwan Kwok; Ngan, Raymond M. H. 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