„Normalisierung“ der Verhältnisse? Eine Analyse der Parlamentswahl 2011 in Singapur ASEAS 4 (2) 304 305 Forum Südostasien / Forum South-East Asia „Normalisierung“ der Verhältnisse? Eine Analyse der Parlamentswahl 2011 in Singapur Rolf Jordan1 Universität Wien, Österreich Citation Jordan, R. (2011). „Normalisierung“ der Verhältnisse? Eine Analyse der Parlamentswahl 2011 in Singapur. ASEAS - Österreichische Zeitschrift für Südostasienwissenschaften, 4(2), 305-313. Überblick zur Parlamentswahl 2011 Trotz weiterer Stimmenverluste hat die seit der Unabhängigkeit Singapurs unange- fochten regierende People’s Action Party (PAP) auch in der jüngsten Parlamentswahl am 7. Mai 2011 81 der insgesamt 87 Sitze und damit eine komfortable Parlaments- mehrheit errungen. Gleichzeitig verzeichnet die seit Jahrzehnten eher schwache Op- position mit dem Gewinn von 6 Parlamentssitzen einen als historisch zu bezeich- nenden Wahlerfolg. Dies umso mehr, als es der Workers’ Party (WP) erstmals gelang, den Sieg in einem Gruppenwahlkreis (Group Representation Constituency/GRC), in dem gleich fünf KandidatInnen aufgestellt werden müssen, zu erringen. Lange Zeit galt die Einrichtung solcher Gruppenwahlkreise als eine der vielen Maßnahmen, mit der die regierende PAP – bisher sehr erfolgreich – versuchte, die Wahlchancen der Opposition zu behindern. Denn Kandidaturen in solchen GRC mit ihren je nach Wahlkreiszuschnitt bis zu sechs aufzustellenden KandidatInnen, die noch dazu aus allen ethnischen Gruppen2 stammen müssen, bündeln eine hohe Zahl an politischem Personal, über das die Opposition bisher nur in begrenztem Maße ver- 1 Rolf Jordan ist Politologe und Soziologe mit Schwerpunkt Südostasienwissenschaften und lehrt am Institut für Geographie und Regionalwissenschaften der Universität Wien Kontakt: rojordan@uni-kassel.de 2 Nach Angaben des statistischen Amtes Singapurs sind von den ca. fünf Millionen EinwohnerInnen des Stadtstaats 76,8 Prozent ChinesInnen, 13,8 Prozent MalaiInnen und 7,9 Prozent InderInnen, während 1,4 Prozent keiner dieser ethnischen Gruppen zugeordnet werden. Rolf Jordan - „Normalisierung“ der Verhältnisse? Eine Analyse der Parlamentswahl 2011 in Singapur d o i 10 .4 23 2 /1 0. A SE A S -4 .2 -7 ASEAS 4 (2) 306 307 fügte. In früheren Parlamentswahlen stellten Oppositionsparteien zwar in allen Ein- zelwahlkreisen (Single Member Constituencies/SMC), KandidatInnen auf, allerdings nur in einer begrenzten Zahl an GRC. Und bisher war es Oppositionsparteien auch nur in Einzelwahlkreisen gelungen, Parlamentssitze zu erringen. Dies schränkte die Mög- lichkeiten der Oppositionsparteien auf nennenswerte Sitzgewinne bei Parlaments- wahlen bereits von Beginn an deutlich ein. Hier zeigt sich auch einer der wesentlichen Unterschiede zu früheren Parlaments- wahlen: Erstmals hat die Opposition in nahezu allen Gruppen- und Einzelwahlkreisen KandidatInnen aufgestellt und damit die regierende PAP umfassend herausgefordert. Lediglich im GRC Tanjong Pagar, traditionell der Wahlkreis des früheren Premiermi- nisters Lee Kuan Yew und seines KandidatInnenteams, stellte die Opposition auch 2011 keine GegenkandidatInnen auf. Damit wurden aktuell für 82 der 87 zu verge- benden Parlamentssitze OppositionskandidatInnen aufgestellt. 2006 waren es nur 47 der seinerzeit 82 Sitze. Begünstigt wurde dieses Erstarken der Oppositionskräfte vor allem durch eine große Zahl junger, gut ausgebildeter KandidatInnen, die 2011 für Oppositionsparteien antraten und das Vertrauen der WählerInnen in die politischen Fähigkeiten der Opposition stärkten („Victory in Singapore“, 2011). Dieser Umstand führt jedoch dazu, dass sich die Stimmengewinne der Opposition und damit auch die Stimmenverluste der Regierungspartei nur sehr begrenzt mit den Ergebnissen der letzten Parlamentswahl vergleichen lassen. 2006 konnten noch ledig- lich 56,5 Prozent aller Wahlberechtigten in ihren Wahlkreisen zwischen KandidatIn- nen der Regierungs- und mindestens einer Oppositionspartei wählen. 2011 waren es nur noch knapp sechs Prozent im Wahlkreis Tanjong Pagar, die keine wirkliche Wahl zwischen unterschiedlichen KandidatInnen hatten. Lediglich hier kam es zu einem so genannten Walk-Over, einer automatischen Wahl der PAP-KandidatInnen, die bei früheren Wahlen für viele Wahlkreise die Normalität darstellte. Gleichzeitig macht auch die erneute Veränderung der Zahl und der Zuschnitte der Wahlkreise (vgl. Jordan, 2007) einen direkten Vergleich der Ergebnisse der jüngsten Parlamentswahl schwierig. Waren es 2006 noch 14 Gruppenwahlkreise mit fünf bzw. sechs aufzustellenden KandidatInnen und 9 Einzelwahlkreise,3 so war für die Parla- mentswahl 2011 wieder ein Trend zu kleineren Wahlkreiszuschnitten zu beobachten. 3 In neun dieser Gruppenwahlkreise waren dabei jeweils fünf, in den anderen fünf GRC jeweils sechs KandidatInnen aufzustellen. ASEAS 4 (2) 306 307 Neben nun 12 Einzelwahlkreisen gab es auch insgesamt verkleinerte Gruppenwahl- kreise.4 Dies hat die Möglichkeiten der Opposition in nahezu allen Wahlkreisen Kan- didatInnen zu nominieren zusätzlich begünstigt. Es ist ein – vor allem für die Opposition – wichtiges Ergebnis, dass der amtierende Premierminister Lee Hsien Loong auch in der zweiten Parlamentswahl seiner Amts- zeit deutliche Stimmenverluste seiner Regierungspartei PAP zu verbuchen hat. Be- reits 2006 verzeichnete die PAP Verluste von nahezu 9 Prozent; 2011 fiel ihr Stimmen- anteil abermals um 6,5 Prozent von 66,6 Prozent auf nun noch 60,1 Prozent. Dass die PAP trotz dieses niedrigen Wählerzuspruchs weiterhin die ganz überwiegende Mehr- heit der Parlamentssitze beanspruchen kann, verdankt sie einzig dem herrschenden Mehrheitswahlrecht, das die bisher noch schwache Opposition in besonderem Maße benachteiligt. In dieser Hinsicht ist es besonders bemerkenswert, dass die Opposition der PAP auch in anderen Wahlkreisen zum Teil sehr knappe Siege bescheren konnte. Neben den Einzelwahlkreisen Potong Pasir und Joo Chiat, wo sich die PAP mit 50,5 Prozent bzw. 51 Prozent nur knapp behaupten konnte,5 fielen die Siege der Regierungspartei auch in Gruppenwahlkreisen wie East Coast (mit 54,8 Prozent) und Marine Parade (mit 56,6 Prozent) nur bescheiden aus.6 In weiteren Gruppenwahlkreisen, wie etwa Tampines und Sembawang, verzeichnete die PAP Stimmenverluste von mehr als 10 Prozent. Bereits bei der letzten Parlamentswahl verfolgte die Opposition die Strategie, durch eine partielle Bündelung der Kräfte – etwa durch die Allianz zweier weite- rer Oppositionsparteien in der Singapore Democratic Alliance (SDA)7 – und Absprachen über die Aufstellung von KandidatInnen zur Vermeidung von Konkurrenzsituationen 4 Zur Parlamentswahl 2011 gab es nur noch zwei Gruppenwahlkreise mit jeweils sechs KandidatInnen, weiterhin fünf GRC für Gruppenkandidaturen von jeweils fünf KandidatInnen, und weitere zwei GRC, in denen Teams von jeweils vier KandidatInnen nominiert werden mussten. 5 In Potong Pasir hatte bei der Parlamentswahl 2006 die oppositionelle Singapore Democratic Alliance (SDA) mit einem Ergebnis von 55,8 Prozent der Stimmen einen Parlamentssitz erringen können. Der Abgeordnete Chiam See Tong trat 2011 nicht mehr in Potong Pasir, sondern als Kandidat der Singapore People’s Party (SPP) in einem anderen Wahlkreis an. Der Einzelwahlkreis konnte 2011 nur knapp von der PAP zurück erobert werden. 6 Marine Parade ist der Wahlkreis von Goh Chock Tong, der im November 1990 den langjährigen Premierminister Lee Kuan Yew im Amt ablöste und seinerseits im August 2004 von dessen Sohn, dem jetzigen Premierminister Lee Hsien Loong, abgelöst wurde. 7 2006 hatte die SDA, zu der seinerzeit auch die National Solidarity Party (NSP) und die SPP gehörten, knapp 13 Prozent der Stimmen und einen Parlamentssitz erringen können. 2011 haben die drei Oppositionsparteien zusammengenommen ihren Stimmenanteil zwar auf 17,9 Prozent steigern können, aber lediglich die NSP konnte mit 12 Prozent der Stimmen einen nennenswerten Anteil verbuchen, während SPP und SDA mit 3,1 Prozent bzw. 2,8 Prozent nach der Auflösung der Parteienallianz wieder deutlich schlechter dastehen. Parlamentssitze konnte keine der drei Parteien erringen. Rolf Jordan - „Normalisierung“ der Verhältnisse? Eine Analyse der Parlamentswahl 2011 in Singapur ASEAS 4 (2) 308 309 in einzelnen Wahlkreisen ihre Chancen zu erhöhen. Auch 2011 gab es mit Punggol East nur einen einzigen Wahlkreis, in dem gleich zwei Oppositionsparteien gegen die PAP antraten („Opposition makes,“ 2011). Aus der Wahl ist die WP unter ihrem Generalsekretär Low Chia Khiang eindeutig als stärkste Oppositionskraft hervorgegangen. Die WP konnte sich nicht nur im Ein- zelwahlkreis Hougang behaupten, dessen Parlamentsmandat sie bereits seit Jahren innehat, sondern auch die fünf Mandate des Gruppenwahlkreises Alljunied erringen und dabei dem PAP-KandidatInnenteam unter George Yeo, einem führenden PAP- Politiker,8 eine Niederlage zufügen. Bereits 2006 hatte sich die PAP in Alljunied nur knapp gegen die WP behaupten können, 2011 erzielte sie in dem Wahlkreis nur noch wenig mehr als 45 Prozent der Stimmen. In Hougang konnte die WP ihren Stimmen- anteil von 62,7 Prozent (2006) auf nun 64,8 Prozent weiter erhöhen. Für die anderen Oppositionsparteien bedeuten die zum Teil guten Wahlergebnisse in ihren Wahlkreisen allerdings keine Mandatsgewinne, auch wenn Oppositionspoli- tiker wie James Gomez, der für die Singapore Democratic Party (SDP) angetreten war,9 der People’s Action Party mit seinem Team im Gruppenwahlkreis Sembawang einen deutlichen Stimmverlust von minus 12,8 Prozent bescherte. Einen ähnlich hohen Ge- samtstimmenanteil wie die Workers’ Party, die auf 12,8 Prozent aller abgegebenen Stimmen kam, erzielte aber allenfalls noch die National Solidarity Party (NSP) mit ei- nem Anteil von 12 Prozent, während die Singapore Democratic Party, die Reform Party (RP) von Kenneth Jeyaretnam,10 die Singapore People’s Party (SPP) und die Singapore Democratic Alliance demgegenüber nur sehr geringe Stimmenanteile zu verbuchen hatten. Zentrale Themen der Parlamentswahl Zu den zentralen Themen der aktuellen Parlamentswahl gehörten die steigenden Le- 8 Georg Yeo war zur Zeit der Wahl amtierender Außenminister Singapurs und hat sich in Reaktion auf seinen Mandatsverlust unmittelbar nach der Parlamentswahl aus der aktiven Politik zurückgezogen. 9 Der Generalsekretär der SDP, Chee Soon Juan, konnte, wie schon 2006 auch 2011 nicht als Kandidat für seine Partei antreten, da er zuvor zu einer hohen Geldstrafe verurteilt worden war, weil er ohne Erlaubnis der Behörden in der Öffentlichkeit gesprochen hatte. Aufgrund der Tatsache, dass er die Geldstrafe nur mit Hilfe von Spendenmitteln seiner UnterstützerInnen begleichen konnte, wurde er offiziell für bankrott erklärt, was ihn von einer Kandidatur für das Parlament ausschließt (vgl. Jordan, 2008). 10 Kenneth Jeyaretnam ist mit der von seinem im September 2008 verstorbenen Vater, dem langjährigen und bekannten Oppositionspolitiker Joshua B. Jeyaretnam, erst im Juni 2008 gegründeten Partei im Gruppenwahlkreis West Coast angetreten und konnte dort bereits im ersten Anlauf 33,4 Prozent der abgegebenen Stimmen erringen. ASEAS 4 (2) 308 309 benshaltungskosten in Singapur, die nicht nur die unteren Einkommensgruppen, son- dern zunehmend auch mittlere Haushaltseinkommen betreffen, und eine wachsende Arbeitsmarktkonkurrenz durch eine anhaltend hohe Zahl ausländischer Arbeitskräfte („Singapore to hold,“ 2011). Weitere Themen waren die weiterhin fehlenden parla- mentarischen Kontrollen in einem seit Jahrzehnten von der PAP dominierten Regie- rungssystem, aber auch die im internationalen Vergleich hohen Vergütungen von MinisterInnen und anderen hohen StaatsbeamtInnen in Zeiten, in denen viele Singa- purerInnen Lohn- und Gehaltsverluste zu verzeichnen haben. Mit einem Anstieg des Bruttoinlandsprodukts um 14,5 Prozent gehörte Singapur 2010 zu den am stärksten wachsenden Ökonomien Asiens. Doch für die meisten Haushalte bedeutet diese hohe Wachstumsrate vor allem auch steigende Lebenshal- tungskosten und einen spürbaren Verlust der Kaufkraft. Zwischen Mai 2010 und Mai 2011 sind die Preise für Lebensmittel nach Angaben des statistischen Amtes Singapurs um 2,8 Prozent angestiegen. Ohne Kosten für Wohnen verzeichnete der Index der Ver- braucherpreise in diesem Zeitraum einen Anstieg um 3,3 Prozent, unter Einbeziehung der Wohnkosten betrug der Anstieg sogar 4,5 Prozent.11 Im April 2011 stiegen darüber hinaus die Preise für Elektrizität landesweit um ca. 6,5 Prozent. Insgesamt erreichte die Inflationsrate in den Monaten vor der Wahl die Marke von sechs Prozent, was zu einer massiven Entwertung der Kaufkraft, vor allem von mittleren und unteren Haus- haltseinkommen, beitrug (Seah, 2011). Gleichzeitig sehen viele Menschen in Singapur durch diese Entwicklung auch den Wert ihrer Ersparnisse und vor allem ihrer Altersversorgung gefährdet. Die Verzin- sung ihrer Rücklagen in der staatlichen Altersversorgung, dem Central Provident Fund (CPF), lag mit zuletzt jährlichen 2,5 Prozent deutlich unter der Inflationsrate. Vor al- lem BezieherInnen niedriger Einkommen, die ohnehin nur mit knappen Altersversor- gungsbezügen rechnen können, müssen nun mit einer noch einmal deutlich niedrige- ren Altersrente rechnen, die angesichts der steigenden Lebenshaltungskosten kaum zum Leben reichen könnte. Die wachsenden Risiken der Verarmung immer größerer Teile der Bevölkerung wurden von allen Oppositionsparteien in ihren Wahlkampag- nen aufgegriffen und als ein wichtiges Wahlkampfthema gegen die regierende PAP genutzt. Dies umso mehr als es die PAP bisher versäumt hat, auf diese Problematik 11 Alle Angaben nach: Department of Statistics Singapore (http://www.singstat.gov.sg). Rolf Jordan - „Normalisierung“ der Verhältnisse? Eine Analyse der Parlamentswahl 2011 in Singapur ASEAS 4 (2) 310 311 angemessen zu reagieren, etwa durch die Verabschiedung von Mindestlohnregelun- gen zum Schutz unterer Einkommensgruppen („Ruling People’s Action Party,“ 2011). Zu dem enormen Wirtschaftswachstum beigetragen hat nicht zuletzt auch die große Zahl ausländischer Arbeitskräfte, die aufgrund vereinfachter Zulassungsbe- stimmungen in den letzten Jahren Zugang zum Singapurer Arbeitsmarkt gefunden haben. Allein zwischen 2007 und 2009 vergab die Regierung jährlich bis zu 130.000 Arbeitsgenehmigungen für ausländische Arbeitskräfte, sowohl im unteren als auch im oberen Beschäftigungssegment, sodass 2010 bereits mehr als 1,3 Millionen Auslän- derInnen im Stadtstaat lebten – bei einer Gesamtbevölkerung von ca. 5,1 Millionen. Eine Folge dieser starken Zuwanderung von Arbeitskräften ist eine wachsende Ar- beitsmarktkonkurrenz, auch für die insgesamt gut ausgebildete Mittelschicht, deren Angehörige zunehmend Schwierigkeiten haben, eine ausreichend gut bezahlte Be- schäftigung zu finden. Gleichzeitig sind vor allem schlechter qualifizierte Arbeitneh- merInnen durch die Zuwanderung von ArbeitsmigrantInnen mit stagnierenden Ein- kommen konfrontiert, die kaum noch ausreichen, die steigenden Kosten für Wohnen, Transport und vor allem Lebensmittel zu decken. KandidatInnen verschiedener Oppositionsparteien, und hier vor allem der NSP, der SDP und der RP, aber auch der besonders erfolgreichen WP, haben entsprechende Ressentiments in der Bevölkerung im Wahlkampf erfolgreich aufgegriffen und mit ihrer Kritik an der Politik der regierenden PAP um Wählerstimmen geworben. Ange- sichts der Tatsache, dass die Opposition dieses Thema massiv für ihren Wahlkampf nutzte, sah sich die Regierung bereits vor der Wahl zu der Ankündigung gezwungen, die Zahl der jährlich zu vergebenden Arbeitsgenehmigungen für ausländische Arbeits- kräfte in den kommenden Jahren drastisch zu reduzieren. Ob es der Regierung mit diesem Schritt gelingen wird, verlorenes Wählervertrauen zurück zu gewinnen, ist eine offene Frage. Auf jeden Fall wird eine Halbierung der jährlichen Arbeitsgenehmi- gungen, wie sie von der Regierung nun angekündigt wurde („Singapore concerned,“ 2011), Auswirkungen auf die zukünftige wirtschaftliche Entwicklung des Stadtstaates haben. In diesem Kontext ist sicherlich auch die Stärkung der Position des alten und neu- en Finanzministers, Tharman Shanmugaratnam, zu sehen, der im aktuellen Kabinett auch die Führung des Arbeitsministeriums von Premierminister Lee Hsien Loong übernommen hat und zugleich in den Rang des stellvertretenden Vorsitzenden der ASEAS 4 (2) 310 311 Rolf Jordan - „Normalisierung“ der Verhältnisse? Eine Analyse der Parlamentswahl 2011 in Singapur PAP aufgerückt ist. Damit verfügt Tharman nach Ansicht von ExpertInnen über aus- reichende Kompetenzen, um sowohl die drängenden Probleme einer drohenden Infla- tion anzugehen als auch die möglichen Folgen der jüngsten Restriktionen bei der Zu- wanderung von Arbeitskräften zu bearbeiten. Beide Problembereiche werden nicht nur für die weitere wirtschaftliche Entwicklung des Stadtstaats, sondern auch für die zukünftigen Wahlchancen der PAP von großer Bedeutung sein. Entscheidend dürfte im Hinblick auf zukünftige Wahlchancen aber auch die An- kündigung sein, die hohen Einkommen der Kabinettsmitglieder zu beschneiden. Un- mittelbar nach Vereidigung des neuen Kabinetts richtete die Regierung eine Kom- mission zur Überprüfung der MinisterInnengehälter ein, die aktuell zwischen 1,5 und 3 Millionen Singapur-Dollar betragen und damit zu den höchsten weltweit zählen („Singapore cabinet,“ 2011).12 Eher kosmetischer Natur erscheint dagegen eine weitere Reaktion auf die hohen Stimmenverluste der Regierungspartei: Nur wenige Tage nach der Wahl legten mit dem ersten Premierminister Lee Kuan Yew und seinem Amts- nachfolger, Goh Chok Tong, zwei führende PAP-Politiker ihre Parlamentsmandate nie- der, um – so die offizielle Begründung – einer jüngeren Generation von PolitikerInnen innerhalb der Partei den Weg frei zu machen („Lee Senior’s departure,“ 2011; „Ruling People’s Action Party,“ 2011). Auf dem Weg zu mehr Demokratie? Insgesamt müssen die sinkenden Stimmanteile der regierenden PAP als deutliches An- zeichen für einen schwindenden Rückhalt der Regierung in der Bevölkerung gedeutet werden. Eine Einschätzung, die auch durch eine Telefonumfrage des Institute of Policy Studies unmittelbar nach der Wahl bestätigt wurde. Auch hier zeigte sich eine hohe Unzufriedenheit der Befragten mit steigenden Wohnungspreisen, stagnierenden Ein- kommen und einer anhaltend hohen Zahl an ArbeitsmigrantInnen im Stadtstaat. Of- fensichtlich wachsen die Zweifel daran, dass die PAP in der Lage (oder auch gewillt) ist, diese Probleme adäquat zu bearbeiten, denn gegenüber 2006 ist ein Rückgang der Zustimmung zur Politik der PAP-Regierung von 87 Prozent auf 73 Prozent zu verzeich- nen („Ruling People’s Action Party,“ 2011).13 12 Dies entsprach im Mai 2011 umgerechnet 850.000 bis 1,7 Millionen Euro. 13 Beim Institute of Policy Studies handelt es sich um einen politikwissenschaftlichen Think Tank der Lee Kuan Yew School of Public Policy an der National University of Singapore (NUS). ASEAS 4 (2) 312 313 Einzig das Mehrheitswahlrecht stellt sicher, dass die PAP trotz eines Stimmenan- teils von lediglich rund 60 Prozent noch immer 93 Prozent der Mandate und damit eine äußerst komfortable Parlamentsmehrheit verbuchen kann. Die zum Teil sehr knappen Ergebnisse in einigen Wahlkreisen machen aber deutlich, dass es der Opposi- tion bereits bei der nächsten Wahl gelingen könnte, in weiteren Gruppenwahlkreisen zu gewinnen und damit die Zahl ihrer Mandate so weit zu erhöhen, dass die PAP die absolute Parlamentsmehrheit, und damit auch die Möglichkeit Verfassungsänderun- gen durchzuführen, verlieren könnte. Dies hätte auch Auswirkungen auf die bisheri- ge Politik der PAP, durch Wahlrechtsänderungen oder die Neustrukturierungen von Wahlbezirken die Wahlbeteiligungsmöglichkeiten der Opposition einzuschränken. Die PAP bleibt auch nach den Stimmverlusten in der jüngsten Parlamentswahl die politisch dominante Kraft im Stadtstaat. Gleichwohl hat die Workers’ Party mit dem erstmaligen Sieg einer Oppositionspartei in einem Gruppenwahlkreis ihre Position als wichtigste Oppositionspartei weiter gefestigt. Und möglicherweise markiert das jüngste Wahlergebnis auch bereits eine Veränderung in Richtung einer stärker demo- kratischen Kultur und einem Zweiparteiensystem in Singapur. Politische Kommenta- toren, wie der Singapurer Soziologe Chua Beng Huat, sprechen in diesem Zusammen- hang bereits von einer „Normalisierung“ der politischen Verhältnisse. Aber weder die Tatsache, dass erstmals in nahezu allen Wahlkreisen OppositionskandidatInnen zur Wahl antraten noch das insgesamt sehr gute Abschneiden der Oppositionsparteien können darüber hinwegtäuschen, dass sich die Opposition gegenüber der regieren- den PAP insgesamt weiter in einer Position der Schwäche befindet. Nur wenn es der Opposition gelingt, aufgrund klarer politischer Zielsetzungen für potenzielle Wäh- lerInnen als wirkliche Alternative zur PAP wahrgenommen zu werden, wird es ihr gelingen, auch in zukünftigen Wahlen Stimmengewinne zu verbuchen. ASEAS 4 (2) 312 313 Bibliographie Jordan, R. (2007). Singapur. Globale Stadt und autoritärer Staat. Bad Honnef: Horlemann. Jordan, R. (2008). Im Kampf gegen Lügner und Schwindler. Oppositioneller Chee Soon Juan unterliegt erneut vor Gericht. Südostasien. Politik – Kultur – Dialog, 3, 50-52. Lee Senior’s departure signals reform. (2011, 15. Mai). AFP/Agence France Presse. Zuletzt zugegriffen am 9. November 2011 unter http://www.singapore-window.org//sw11/110515af.html Opposition makes election breakthrough. (2011, 8. Mai). AFP/Agence France Presse. Zuletzt zugegriffen am 9. November 2011 unter http://www.singapore-window.org//sw11/110508af.html Ruling People’s Action Party losing some credibility among S’poreans, survey finds. (2011, 8. Juli). AP/ Associated Press. Zuletzt zugegriffen am 9. November 2011 unter http://www.spp.nus.edu.sg/ips/docs/ media/yr2011/post-election/AP_Ruling%20Peoples%20Action%20Party%20losing%20some%20credibili- ty%20among%20Sgpreans_080711.pdf Seah Chiang Nee. (2011, 2. April). Feeling the pinch of higher prices. 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Eine Analyse der Parlamentswahl 2011 in Singapur