Rezension: Keller, A. (Hg.). (2015). Indonesien 1965ff. Die Gegenwart eines Massenmordes. Ein politisches Lesebuch. Rezension: Keller, A. (Hg.). (2015). Indonesien 1965ff. Die Gegenwart eines Massenmordes. Ein politisches Lesebuch. Berlin: regiospectra. ISBN: 978-3-940132-68-0. 214 Seiten. ► Blum, F. (2017). Rezension: Keller, A. (Hg.). (2015). Indonesien 1965ff. Die Gegenwart eines Massenmor- des. Ein politisches Lesebuch. Austrian Journal of South-East Asian Studies, 10(1), 117-120. Das politische Lesebuch Indonesien 1965ff. Die Gegenwart eines Massenmordes, herausgegeben von Anett Keller im Auftrag der Südostasien-Informationsstelle, versammelt Stimmen, die sich mit den Massenmorden in Indonesien ab 1965 und deren Aufarbeitung auseinandersetzen: Beiträge von indonesischen Wis- senschaftlerInnen unterschiedlicher Disziplinen, Protokolle von Überlebenden, Darstellungen von Akteuren, die sich der Vergangenheitsaufarbeitung widmen, sowie Werke zeitgenössischer indonesischer KünstlerInnen. Der übergreifende Ansatz des Buches ist es, die Kontinuität der Massenmorde herauszuarbeiten und damit nicht nur einen Einblick in Indonesiens Vergangenheit zu geben, sondern die Ereignisse ab 1965 als prägendes Moment der indonesischen Ge- genwart zu beschreiben. Im Oktober 1965 wurden in Jakarta sechs Generäle und ein Leutnant der indonesischen Armee entführt und ermordet. Die Täter, die sich „Bewegung 30. September“ (G30S) nannten, handelten eigenen Angaben zufolge, um einen Putsch rechter Generäle gegen den Präsidenten Sukarno zu verhindern. Noch bevor die Hintergründe der Tat geklärt waren – sie sind es bis heute nicht –, wurde die Kommunistische Partei Indonesiens (PKI) als Drahtzieher der Angrif- fe beschuldigt. In den folgenden Wochen und Monaten wurden Mitglieder oder (vermeintliche) SympathisantInnen der PKI verhaftet, gefoltert und ermordet. Schätzungen zufolge wurden 500.000 bis 3 Millionen Menschen getötet, was die Gewalttaten ab 1965 zu einem der größten Massenmorde des 20. Jahrhunderts macht. Hunderttausende Menschen wurden zum Teil jahrelang inhaftiert und auch nach ihrer Entlassung diskriminiert, ausgegrenzt und entmenschlicht. Als Grundlage dafür diente die jahrzehntelang dominierende Geschichtsschreibung der „Neuen Ordnung“ (Orde Baru) unter General Suharto, der sich nach den Er- eignissen um den Oktober 1965 an die Spitze des Staates geputscht hatte: Die Opfer der Massenmorde wurden als Täter dargestellt. Dieser einen Version der Geschichte eine Vielzahl von Geschichten und al- ternative Thesen entgegenzustellen ist das Anliegen des Sammelbandes: In- donesien 1965 als „Schauplatz des Kalten Krieges“ (Baskara T. Wardaya SJ), als „Folge staatlichen Handelns“ (Stanley Adi Prasetyo), als „Wendepunkt der in- donesischen Geschichte“ (Hilmar Farid), als „Wendepunkt der Geschichte von Indonesiens Frauenbewegung“ (I Gusti Agung Ayu Ratih); um nur einige zu nennen. Der Fokus auf einzelne Aspekte der Gewalt, deren Fortwirken und die Strukturen, in die die Gewalttaten eingebettet sind, trägt in der Gesamtheit der Beiträge zu einem differenzierten Bild bei, das Widersprüchlichkeiten zwischen Rezensionen  Book Reviews w w w .s ea s. at d o i 10 .1 47 64 /1 0. A SE A S- 20 17 .1 -9 118 Franziska Blum  ASEAS 10(1) den Texten ebenso zulässt wie Wiederholungen. Hilmar Farid beschreibt das Jahr 1965 weniger als menschliche Tragödie, sondern vielmehr als Wendepunkt der indo- nesischen Geschichte und als „Siegeszug des Kapitalismus“ (S. 71-82). Die Protokolle von Überlebenden (S. 29-40, S. 59-64, S. 83-88, S. 137-152, S. 183-192) beschreiben die menschliche Tragödie in all ihren Facetten – was als LeserIn oft schwer zu ertragen ist. Die individuelle Dimension der Gewalt für die Opfer und deren Familien (auch der Generationen nach 1965) zeigen sowohl die Unvergleichbarkeit der Schicksale als auch eine mögliche Konzeptualisierung der Gewalt und strukturelle Bezüge (z.B. zu sexualisierter Gewalt). Die Protokolle der Opfer sind Übersetzungen von Beiträgen aus indonesischen Sammelbänden, die die Geschichte nicht aus der Perspektive der Sieger, sondern der Opfer erzählen. Damit stehen sie stellvertretend für viele Akteure der Vergangenheitsaufarbeitung, deren Arbeit auf Interviews mit Opfern seit 1965. basiert (z.B. Yayasan Penelitian Korban Pembunuhan 1965/66 (YPKP), Institut Sejarah Sosial Indonesia (ISSI) oder Lembaga Kreatifitas untuk Kemanusiaan). In den Darstel- lungen von Akteuren der Vergangenheitsaufarbeitung (S. 41-46, S. 65-70, S. 89-94, S. 117-122, S. 153-164, S. 193-198) werden auch die Schwierigkeiten sichtbar: „Die öffent- liche Meinung tendiert aus den verschiedensten Gründen eher zu einer Ablehnung der Aufarbeitung von 1965. Hier zeigt sich, wie Suhartos Geschichtsschreibung bis heute nachwirkt. Ein Teil der Gesellschaft hat Angst, dass die Wahrheitssuche alte Wunden aufreißt und wieder zu Konflikten führt. Ein anderer Teil sieht im Ruf nach Aufarbeitung das Bemühen von Kommunisten mit dem Ziel, die Macht zu ergreifen“ (S. 81). Auf welchen Ebenen und mit welchen Mitteln die Geschichtsschreibung durch- gesetzt wurde, zeigt der Beitrag „Film als Mittel der Propaganda“ von Wijaya Herlam- bang (S. 123-136). Filme spielten als Massenkommunikationsmedien eine Schlüssel- rolle für den Aufbau von Denkstrukturen der Neuen Ordnung. Wissenschaftliche Studien wie jene des Militärhistorikers Nugroho Notosusanto, bildeten das ideologi- sche Fundament der Dokumentationen und zeugen von der Verflechtung von Wis- senschaft und politischer Macht in der Ära Suharto. Auch auf internationaler Ebene gab es – auch aufgrund des geopolitischen Kontexts – über einen langen Zeitraum nur wenige Beispiele für wissenschaftliche Analysen der Ereignisse von 1965, die sich von der Neuen Ordnung und den machtpolitischen Verstrickungen emanzipierten (z.B. die Cornell Papers). Der Historiker Baskara T. Wardaya SJ beschreibt in seinem Beitrag „Schauplatz des Kalten Krieges“ (S. 17-28) die Ereignisse von 1965 als „logische Konsequenz“ (S. 20) der innen- und außenpolitischen Konstellationen. Er arbeitet insbesondere die Rolle der USA heraus, die anti-kommunistische Politik im blockfreien Indonesien der 1960er Jahre unterstützte und „aktiv in die Pläne der Beseitigung der PKI und zur Entmachtung von Präsident Sukarno beteiligt“ (S. 24) war. Seiner Analyse zu- folge ist die internationale Machtkonstellation nicht nur mitverantwortlich für die Gewalt, sondern auch für ihre fehlende Aufarbeitung. Einen möglichen Weg für eine solche glaubhafte Aufarbeitung auf internationaler Ebene beschreitet die Organisati- on YPKP, die zu den Initiatoren des Volkstribunals in Den Haag im Herbst 2015 zählt und auf den internationalen Druck zur juristischen und politischen Aufarbeitung setzt. 119Book Review „Dem Puzzle fehlen . . . noch viele Teile“ (S. 14), argumentiert die Herausgeberin Anett Keller und es bleibt fragwürdig, warum es gerade außerhalb Indonesiens kaum Wissen über das unvorstellbare Ausmaß an Gewalt gibt. Der Sammelband schließt hier eine Lücke, indem er sich erstmals in deutscher Sprache mit den Ereignissen von 1965/1966 und deren Fortwirken bis heute auseinandersetzt. Weitere Ausein- andersetzungen sollten folgen, so zum Beispiel zum Verhältnis von Indonesien und der Bundesrepublik Deutschland, die besondere Beziehungen zu Indonesien unter Suharto (bis hin zu persönlicher Freundschaft zwischen Helmut Kohl und Suharto) pflegte. Ob auf nationaler oder internationaler Ebene, die Wissensproduktion über die Massenmorde im Oktober 1965 und ihre Hintergründe spielte eine zentrale Rolle, die massenhafte Gewalt zu legitimieren und bis in die Gegenwart hinein fortzufüh- ren. Die kritische Aufarbeitung bedarf gerade deshalb einer kritischen Wissenspro- duktion im Sinne vielfältiger Perspektiven. Franziska Blum freie Autorin